Gegen die Kriminalisierung der Sozialarbeit – das Beispiel Leipzig
Allgemein
Seit Beginn der 1980er-Jahre leisten Fanprojekte aufsuchende Jugendsozialarbeit in der Fußballfanszene. Dies geschieht auf der gesetzlichen Grundlage des SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfegesetz. In Deutschland arbeiten aktuell 58 Fanprojekte mit 64 Fanszenen. Finanziert nach einem bundesweit einheitlichen System durch Kommune, Bundesland und DFB bzw. DFL sind die sozialpädagogisch arbeitenden und vereinsunabhängigen Fanprojekte jeweils in die kommunalen Jugendhilfestrukturen eingebunden. Ihre Zielgruppe sind die Jugendlichen, die sich in großer Zahl in der Fankultur des Zuschauersports Fußball wiederfinden und sich aktuell mehrheitlich der Szene der Ultras zuordnen. Der sozialarbeiterische Zugang zu ihnen wird von den Kolleg*innen der Fanprojekte über eine Teilnahme an ihrer Lebenswelt gesucht, mit dem Ziel eine belastbare Beziehungsebene herzustellen, die weitergehende pädagogische Initiativen zulässt. Hauptaufgabengebiete der Fanprojekte sind die Förderung einer positiven Fankultur, Demokratiestärkung und Gewaltprävention, Hilfestellung für meist jugendliche Fans in Problemlagen aber auch die Herstellung und Moderation der Kommunikation zwischen den am Fußball beteiligten Parteien (u.a. Fans, Vereine, Polizei und Ordnungsdienste). Dabei findet die Arbeit in einem von machtvollen Interessengruppen – hier das Verwertungsinteresse der Unterhaltungsindustrie, dort das Regulierungsinteresse der inneren Sicherheit – dominierten Arbeitsfeld statt. Die große mediale Bedeutung des Fußballs sorgt zudem für öffentliche Beachtung.
Deswegen kommt dem Schutz der vertrauensvollen Beziehungsebene zwischen jugendlicher Klientel und Sozialarbeiter*in im Fanprojekt höchste Bedeutung zu.
Kriminalisierung der Fanprojektarbeit in Leipzig – und darüber hinaus
In Leipzig wurden seit 2013 Ermittlungen gegen 14 Beschuldigte wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung im Umfeld der linken Szene und des Leipziger Fußballvereins BSG Chemie geführt. Nicht nur die Tatverdächtigen, sondern auch zahlreiche Unverdächtige wurden mit umfangreichen Überwachungsmaßnahmen überzogen. Offensichtlich zu Unrecht: Das Ermittlungsverfahren wurde im Herbst 2016 eingestellt. Erst daraufhin wurde das ganze Ausmaß der Überwachung bekannt. Die gesamte, auch verschlüsselte, Telekommunikation der Verdächtigten wurde ebenso überwacht und aufgezeichnet wie die Bewegungsdaten ihrer Handys. Es wurde eine verdeckte Videoüberwachung eingesetzt und Funkzellenabfragen durchgeführt. Die Unsicherheit in Leipzig bleibt bestehen, kürzlich wurde bekannt, dass mindestens ein weiteres Ermittlungsverfahren nach §129 betrieben wird.
Mit der Einstellung des ersten Verfahrens wurde weiter bekannt, dass auch ein Mitarbeiter des Leipziger Fanprojekts als Beschuldigter geführt wurde. Dabei waren klassische Fanprojekttätigkeiten Gegenstand der Ermittlungen.
Die Tatsache, dass ein Mitarbeiter des Fanprojektes Teil dieser Überwachung war, stellt aus Sicht der KOS, wie auch der Bundesarbeitsgemeinschaft der Fanprojekte (BAG), einen unzumutbaren Eingriff in die Arbeit der nach den Vorgaben des „Nationalen Konzepts Sport und Sicherheit“ (NKSS) arbeitenden sozialpädagogischen Fanprojekte dar. Der Eingriff in die Beziehungsebene zwischen Fanprojekt und Klientel durch die zuständigen Ermittlungsbehörden in Sachsen stellt dieses Verhältnis auf eine enorme Belastungsprobe.
Dies gilt über Leipzig hinaus. Die Kolleg*innen in den derzeit 58 Fanprojekten stehen dadurch vor bislang unbekannten Herausforderungen, die sowohl das berufliche Umfeld betreffen, im Falle der Überwachung des Leipziger Kollegen aber auch in den privaten Bereich hinein reichen.
Der Vorgang in Leipzig ist Teil einer Gesamtentwicklung: Seit einigen Jahren steigt die Zahl polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Zeugenvorladungen von Fanprojektmitarbeiter*innen. In jüngster Zeit erfolgten Hausdurchsuchungen in zwei Fanprojekten. Diese Maßnahmen belasten das Verhältnis zwischen den heranwachsenden Fans und den Sozialarbeiter*innen in den Fanprojekten massiv. Sie bereiten zudem den Weg zu einer Kriminalisierung von Jugendsozialarbeit weit über das spezifische Arbeitsfeld der Fanprojekte hinaus.
Anlässlich der Überwachung unseres Kollegen im Leipziger Fanprojekt durch die Ermittlungsbehörden in Sachsen haben BAG und KOS diesen Offenen Brief formuliert, der sich in seinen Forderungen zuallererst an die Staatsanwaltschaft in Dresden und die Polizei in Sachsen und Leipzig richtet.
Die Fanprojekte sind in ihrer Vermittlungs- und Moderationsfähigkeit sehr wichtig und anerkannt. Es gehört daher zur Verantwortung aller Partner im Netzwerk, die Fanprojekte mit ihren im NKSS beschriebenen Aufgaben zu respektieren und zu schützen!
Unterstützt wird der Offene Brief durch namhafte Unterzeichner*innen aus Forschung und Lehre sowie der Trägerlandschaft.