Stellt die heutige Fußballgemeinschaft eine Art Familie dar? von Christian Holtmann

Christian ist ein junger Mann, Anfang 30 und begeisterter Fußballfan. Er ist immer wieder im Stadion in Meppen oder verfolgt die Spiele der Bundesliga oder der Champions League. Christian hat 5 Semester Theologie und Geschichte in Münster studiert und lebt heute in Meppen beim Verein Lotse in einer Wohngruppe. Christian ist ein begnadeter Schreiber und hat verschiedene Texte über das Thema Fußball (-vergleiche) verfasst. Wir freuen uns, dass Christian uns die Texte zu Veröffentlichung bereit gestellt hat.

 

Stellt die heutige Fußballgemeinschaft eine Art Familie dar?

Eine sportpädagogische Reflexion

Heutzutage, insbesondere im Zeitalter der Postmoderne, in dem traditionelle, religiöse, familiäre, soziale  und politische Bindungen ihre Wirkkraft verlieren, stellt sich die Frage, ob die Fußballgemeinschaft, sprich der Verein, die Fanszene oder die Ultra-Subkultur für viele den Stellenwert einer Familie einnehmen.

Vor allem in der Ultra Subkultur ist seit längerem zu beobachten, dass die eingeschworene Gemeinschaft mit ihren eigenen Regeln, Rollen und Ritualen für viele eine Art Ersatzfamilie darstellt in der sie ihren eigenen Lebensrhythmus verfolgen. Dieser wird bestimmt von den wochenendlichen Spielzeiten der Fußballbundesliga und dem Stadion als zentralem sozialen Treffpunkt und Bezugsrahmen. Hier wird ein soziales Netz aufgebaut und aufgespannt, indem sich die Akteure wohlfühlen und ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Es werden Freunde getroffen, Verabredungen ausgetauscht, Choreographien einstudiert, über den alltäglichen Fußballwahnsinn gefachsimpelt und vieles mehr. Dabei  wird alles dem Fußballkosmos untergeordnet: Beruf, Freund(in), Freizeit u.ä. Die Betroffenen leben oftmals nur noch für den Fußball, was oft zu einer Vernachlässigung alltäglicher sozialer Bindungen und Kontakte sowie Familien- und Berufsleben führt. Soziologisch gesehen generiert sich die Fußballfamilie hier zu einer Ersatzbastion für Vertrautheit, Befriedigung sozialer Bedürfnisse wie Anerkennung und Wertschätzung und Auslebung von Gefühlen in Gemeinschaft.

Es bleibt jedoch festzuhalten, dass es für den gewöhnlichen Fan trotz offensichtlicher Gemeinsamkeiten nur schwer vorstellbar ist, in der Fußballcommunity eine komplette Ersatzfamilie zu erblicken. Vermittlung von Urvertrauen, Nähe und Intimität sowie Aufbau von Beziehungen finden in der Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“ (Papst Johannes Paul II.) statt, nicht  im ekstatisch-orgiastischem Miteinander in der Südkurve.

Auch die Verhältnisse im Weltfußball legen oftmals den Schluss nahe, dass es sich beim bezahlten Profifußball eher um eine Zweckgemeinschaft als um eine Solidar- und Wertegemeinschaft handelt. Das Söldnertum im Wanderzirkus Profifußball, der Ausstieg aus bestehenden Verträgen mittels Protest und Klage oder etwa die ständig schwelende Diskussion um Korruption und Mauschelei, zeichnen das Bild einer Sportart, in der jeder nur versucht sich selbst zu bereichern und größtmöglichen Profit zu machen.  Das Verschachern von Spielern zu horrenden Millionenbeträgen von einem Club zum nächstem, die Übernahme von Traditionsvereinen durch reiche ausländische Investoren sowie mangelnde vereinstreue und Identifikation sind ebenfalls Indikatoren einer Fußballkultur, die auf Geschäft statt Gemeinschaft setzt.

Erst wenn es zu einem –aus heutiger Sicht- utopischem- Strukturwandel und Paradigmenwechsel  innerhalb des festgefahrenem Establishments kommen würde, in dem Werte mehr zählen als wealth wäre der Weg bereitet für eine Fußballkultur, in der der Einzelne sich aufgehoben fühlen darf.